Das Delir ist ein komplexes Krankheitsbild, das als Komplikation anderer Erkrankungen und deren Behandlung auftritt – und dies viel häufiger, als man denkt. Bei richtiger Behandlung verschwinden die Symptome innerhalb weniger Tage vollständig. Eine Hilfestellung für Pflegende und Angehörige.
Menschen jeder Altersgruppe können an einem Delir leiden. Es gibt unterschiedliche Risikofaktoren und die Schwierigkeit liegt oft in der Diagnose.
Autorin: Judith Dominguez, 09.2016
Im Delirium zu sein, heisst «wahnsinnig sein», heisst «neben den Schuhen stehen», sich wie ein «Verrückter» verhalten. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet in etwa «aus der Furche geraten» oder «irre sein».
Das Delirium ist eine akute Verwirrtheit, eine Störung des Bewusstseins und der kognitiven Funktionen. Menschen im Delir verhalten sich tatsächlich, als ob ihnen die Sinne und das vernünftige Denken abhanden gekommen seien. Im Zusammenhang mit dem Alkoholentzug ist das «Delirium tremens» allgemein bekannt. Weniger bekannt ist, dass eine akute Verwirrtheit häufig als Komplikation schwerer akuter oder chronischer Erkrankungen auftritt, als Nebenwirkung von Medikamenten oder in Folge von Operationen.
Wie viele Patienten im Akutspital an dieser Komplikation erkranken, ist nicht wirklich klar. In verschiedenen Studien für das postoperative Delirium werden Zahlen von neun bis 87 Prozent und auf Intensivstationen von 20 bis 80 Prozent genannt. Die Häufigkeit schwankt vermutlich deshalb so stark, weil es bis heute trotz moderner Diagnosemethoden schwierig bleibt, das Delir als solches zu erkennen. Die folgenden Hinweise sollen Pflegenden und auch Angehörigen dabei helfen, die richtigen Massnahmen zu ergreifen.
Die Anzeichen für ein Delir sind nicht immer einfach von anderen Beeinträchtigungen des Bewusstseins zu unterscheiden. Doch ein Merkmal trifft für jedes Delirium zu: Die Symptome entwickeln sich innerhalb nur weniger Stunden, treten also ganz akut auf.
Oft werden die Betroffenen hyperaktiv. Sie werden von einer gewaltigen Unruhe erfasst, die sie nicht mehr zu kontrollieren vermögen. Sie wandern ruhelos umher. Sie sind dauernd in Bewegung, fuchteln mit den Armen oder werfen Gegenstände umher. Liegt ein Betroffener auf der Intensivstation, so zerrt er sich womöglich alle Schläuche heraus und wirft die ihn umgebenden Apparaturen um. Statt im Bett liegen zu bleiben, steht er auf und irrt umher. Lebt der Betroffene in einem Pflegeheim, kann er sich plötzlich die einfachsten Dinge nicht mehr merken. Er hört nicht mehr zu und reagiert auf den Zuspruch anderer unerwartet emotional. Vielleicht schreit er laut, oder er riecht an Dingen, die gar nicht vorhanden sind, weil Halluzinationen auftreten. Verständlicherweise ist das soziale Umfeld einem solchen Verhalten gegenüber ziemlich hilflos.
Bei einem Delir kommt vor, dass man alles um sich herum nicht mehr richtig wahrnimmt. Man ist verlangsamt, wirkt apathisch und desorientiert.
Nicht immer zeigt sich eine solche plötzliche Verwirrtheit in einer Hyperaktivität, sondern kann als akute Apathie in Erscheinung treten. Die Betroffenen zeigen plötzlich keinerlei Interesse mehr an ihrem Umfeld. Sie sind verlangsamt in der Bewegung und sprechen leise und langsam. Sie verstehen kaum, was man ihnen sagt, und geben Antworten, die nicht zu den Fragen passen. Sie wissen nicht mehr, ob es Morgen oder Abend, Frühling oder Winter ist oder meinen gänzlich woanders zu sein. Der apathisch Verwirrte nickt mitten im Gespräch plötzlich ein und beendet den begonnenen Satz nicht mehr. Häufig tritt eine Tag- und Nachtumkehr auf; das heisst: Nachts können die Patienten nicht schlafen und holen das tagsüber dann so ausgiebig nach, dass sie kaum zu wecken sind. Sie vernachlässigen sich, waschen und kämmen sich nicht, sie haben keinen Appetit, und auch sonst ist ihnen so ziemlich alles gleichgültig.
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Medikamente und ihre Wechselwirkungen sind ein sehr hoher Risikofaktor.
Bestimmte Risikofaktoren können entscheidende Hinweise darauf geben, ob ein Patient tatsächlich an einem Delir leidet: Alter, körperliche und psychische Einschränkungen, Stress oder die Menge an Medikamenten. Bei älteren Menschen kommen Delirien häufiger vor – nicht nur in Krankenhäusern, sondern auch in Pflegeheimen oder bei pflegebedürftigen Senioren, die zu Hause wohnen. Erkranken sie an einer Lungenentzündung oder erleben gar ein trauriges Ereignis wie den Tod des Ehepartners, ist die Folge nicht selten eine akute Verwirrtheit. Alte Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung, z. B. einer Demenz, sind besonders gefährdet.
Stress ist im Alter ebenfalls ein wichtiger Risikofaktor. Enormen Stress auslösen kann es beispielsweise, wenn jemand wegen einer Erkrankung oder Operation ins Krankenhaus muss: Das ist mit vielen Ängsten und Unsicherheiten verbunden. Das Gleiche gilt für den nicht einfachen Schritt, in ein Pflegeheim einzutreten. In diesem Zusammenhang spricht man von einem «Relokationssyndrom». Besonders schwer tun sich mit solchen Ortswechseln Menschen, die sich auf Grund von Seh- oder Hörschwächen schwieriger in einer neuen Umgebung orientieren können.
Bei ungefähr 40 Prozent der Fälle sind Medikamente die Ursache. Fast alle Medikamente können als Nebenwirkung ein Delir auslösen. Häufig sind aber die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arzneimitteln die Hauptursache, und wer mehr als sechs verschiedene Medikamente einnimmt, hat ein besonders hohes Risiko.
Einer der grössten «Knackpunkte» bei der Diagnose ist die Unterscheidung zwischen Delir und Demenz. Demenzkranke zeigen viele Symptome, die auch bei anderen Bewusstseinstrübungen auftreten. Allerdings entwickeln sich diese, wie bereits gesagt, über einen langen Zeitraum, wogegen sie beim Delir plötzlich auftreten.
Tritt ein Demenzkranker in ein Krankenhaus oder Pflegeheim ein, fühlt er sich gänzlich verloren; die neue Situation überfordert ihn. Er ist darauf angewiesen, dass ihm der Weg immer wieder gezeigt wird, dass ihm gesagt wird, wann Morgen und Abend ist und was sich tagsüber abspielt. Das benötigt viel Zeit, die die Mitarbeitenden von Gesundheitsinstitutionen oft nicht haben. Dieser Verlust an Sicherheit und Zuwendung erhöht das Risiko, ein Delir zu entwickeln, beträchtlich. Hilfreich ist hier der Einbezug von Familienangehörigen und Freunden, die viel dazu beitragen können, die ungewohnte Situation ohne Komplikationen zu meistern.
Das höhere Alter ist ein Risikofaktor – das heisst jedoch nicht, dass nicht auch junge Menschen an einem Delir erkranken können, auch wenn sie weniger häufig betroffen sind.
Manchmal sind Entzugserscheinungen die Ursache. Dazu gehören nicht nur Alkohol, sondern auch andere Drogen. Raucher, HIV-Positive und Menschen mit Atemwegserkrankungen haben ein höheres Risiko. Infektionen und hohes Fieber begünstigen die Entwicklung einer Bewusstseinsstörung auch bei jungen Menschen. Dies gilt besonders nach grossen Operationen und auf der Intensivstation.
Grossflächige Verbrennungen können ein Delirium verursachen, da die Haut ein wichtiges Organ für den Elektrolythaushalt ist. Dieser ist bei Brandverletzungen stark beeinträchtigt.
Akute Schmerzen können einen Menschen buchstäblich «in den Wahnsinn» treiben; das wusste man schon lange bevor das Delir einen internationalen Diagnosenamen erhalten hat. Unkontrollierbare Schmerzerlebnisse sind altersunabhängig und können selbst junge kräftige Menschen innerhalb weniger Stunden aus der Bahn werfen.
International stehen heute mehr als zwanzig verschiedene Screening-Methoden zur Verfügung, um ein Delirium korrekt zu diagnostizieren. Solche systematischen Testverfahren basieren auf Beobachtungen durch Fachpersonal, da der Betroffene in seiner akuten Verwirrtheit kaum in der Lage ist, auf Fragen brauchbare Antworten zu geben.
Die meisten dieser Beobachtungsinstrumente sind auch in die deutsche Sprache übersetzt worden. Die CAM («Confusion Assessment Method») ist ein einfacher Fragebogen, in den Pflegende und Ärzte ihre Beobachtungen eintragen können. Diese Methode wurde speziell für Intensivpatienten weiterentwickelt. Allerdings lässt sich damit das Ausmass des Delirs nicht herausfinden. Das leistet z. B. die einfach anzuwendende DOS («Delirium Observation Scala»), die mittels einer Punkteskala den Schweregrad aufzeigt.
Solche Instrumente wurden für bestimmte Patientengruppen, wie zum Beispiel für die Intensivstation, nach Operationen oder in der Psychiatrie, modifiziert. Je nach Akutheitsgrad wird die Beobachtung über 24 bis 48 Stunden durchgeführt.
Einmal mehr trifft dieser Spruch beim Delir den Nagel auf den Kopf. Rein theoretisch sind fast alle Delirien vermeidbar. Allerdings müssten dafür die Risikofaktoren bekannt und ausschliessbar sein. Doch das ist nicht immer so einfach: Von Patienten, die notfallmässig in ein Krankenhaus eingeliefert werden, weiss das Personal nur wenig. Hör- und Sehbehinderungen werden unter Zeitdruck übersehen, und deshalb gibt niemand Unterstützung bei der Orientierung.
Studien belegen, dass die Schmerzbehandlung bei älteren Menschen oft nicht ausreichend ist – auch dies erhöht das Risiko. Andererseits sind die vielen Medikamente, die ältere Menschen verordnet bekommen, nicht zu vergessen. Oft sind deren Wechselwirkungen unbekannt oder werden – sogar von Ärzten und Apothekern – nicht richtig eingeschätzt. Möglich ist auch, dass ältere Menschen vom sozialen Umfeld unbemerkt demenzkrank geworden sind, doch eine Diagnose bisher noch nicht gestellt wurde. Umgekehrt werden die akuten Symptome eines Delirs nicht selten fälschlicherweise für eine demenzielle Entwicklung gehalten.
Die richtige Diagnose eines Deliriums und die Unterscheidung von anderen Verwirrtheitszuständen sind keineswegs eine Nebensache, denn die Folgen sind alles andere als harmlos.
Delirien infolge von Operationen verdoppeln die Spitalaufenthaltsdauer und können ohne Behandlung lebensgefährlich sein. Zudem kommt es häufig zu weiteren Komplikationen im Behandlungsverlauf, beispielsweise zu Infektionen oder zu Stürzen mit Knochenbrüchen. Bei mehr als 80 Prozent der älteren Patienten ist der geistige Zustand auch noch sechs Monate nach dem akuten Delir wesentlich beeinträchtigt, was nicht selten zu einer langfristigen Pflegebedürftigkeit führt.
Die Begleitung solcher Patienten ist äusserst personalintensiv und deshalb teuer. In der Schweiz geht man davon aus, dass die durch Delirien zusätzlich verursachten Gesundheitskosten pro Jahr ungefähr 926 Millionen Franken betragen. Studien aus Amerika zufolge erhöht die Komplikation die Kosten pro Spitalaufenthalt um über 30 Prozent. In Deutschland und Österreich geht man von ähnlich hohen Zahlen aus.
Ein Delir ist nicht nur teuer, sondern für die Betroffenen, ihre Angehörigen und das Betreuungsteam ausserordentlich belastend. Daher ist es von grösster Wichtigkeit, gute Instrumente zur Hand zu haben, um das Geschehen frühzeitig zu erkennen und behandeln zu können. Viele der beschriebenen Diagnoseansätze und Massnahmen sind nicht neu und in den Institutionen bereits Bestandteil des pflegerischen Alltags. Wichtig ist, dass sie konsequent und systematisch angewendet werden.