Ein freies Kinderleben findet draussen statt. Doch viele Erzieher sehen Kinder heute zunehmend in Innenräume verbannt. Müssen sie erst wieder lernen, Glück und Lebenserfahrung in der freien Natur zu entdecken?
Welches Baby kräht nicht vor Vergnügen beim Anblick einer Katze, welches Kleinkind ist nicht begeistert von Regenpfützen und Matsch? Welcher Achtjährige kann dem Reiz widerstehen, einen kleinen Bach in einen Stausee zu verwandeln oder die vielfältigen Bewohner eines Tümpels im Wald zu entdecken?
Autorin: Dr. Claudia Rawer, 05.12
Wir Erwachsenen erinnern uns an Naturerlebnisse in der Kindheit, an Momente reinsten Glücks und berauschter Sinnenfreude, die uns die ersten Buschwindröschen oder eine Handvoll sonnenwarmer Walderdbeeren schenkten, an stundenlanges entrücktes Spielen im Wald oder am Bach. «Das Paradies, das die kindliche Vorstellungskraft hervorzuzaubern vermag» nannte Alfred Vogel das und schildert in seinen Kindheitserinnerungen beispielsweise «ein herrliches Gefühl, wenn die schönen, goldverzierten Feuersalamander mit ihrem kühlen Körper uns Kindern über den Arm spazierten.»
Einer jüngeren pädagogischen Doktorarbeit zufolge haben heute ein Drittel der Kinder zwischen neun und fünfzehn Jahren einen Salamander noch nicht einmal gesehen. Noch viel weniger haben übrigens schon Heu gerochen oder einer Spinne beim Netzbau zugeschaut (52 und 47 Prozent). Und nach eindrucksvollen Naturerlebnissen gefragt, fiel 40 Prozent der befragten Kinder überhaupt nichts ein. Kennen Kinder heute das Einssein mit der Natur, das wilde, ungezügelte Spiel draussen, die Freude am Beobachten und Geschehen in der Natur nicht mehr?
Mit dem von dem amerikanischen Autor Richard Louv geprägten Begriff «Natur-Defizit» wird umschrieben, was tatsächlich vielerorts, auch und gerade im dicht besiedelten, industriell geprägten Mitteleuropa in den letzten Jahren immer mehr zunimmt: die Entfremdung der Kinder (und nicht nur dieser) von der Natur.
Einerseits ist damit gemeint, dass natürliche Rhythmen und Erscheinungen nicht mehr gekannt und nicht mehr erlebt werden (in einer deutschen Studie wussten beispielsweise 40 Prozent der befragten Kinder nicht, dass die Sonne im Osten aufgeht), andererseits der Verlust der direkten Beziehung zur Natur als Lebens- und Erlebnisraum, das Fehlen des freien Spiels ohne technische Geräte oder Lernzweck. Das hat traurige Folgen: «Von der Natur isolierte Kinder erfahren nicht das Gefühl von Zugehörigkeit zur belebten Welt, das für die seelische Entwicklung unverzichtbar ist», meint der deutsche Biologe und Philosoph Andreas Weber.
Mit dem Verschwinden des ungezähmten Spiels im Freien drohe etwas Unersetzliches verloren zu gehen: die Möglichkeit, seelisches, körperliches und geistiges Potenzial «so zu entfalten, dass Kinder zu erfüllten Menschen werden.» Dem kindlichen Paradies, das Alfred Vogel beschreibt, droht die Schliessung.
Eintauchen in die Sonnenblume! Kinder lieben es, mit allen Sinnen die Natur zu entdecken.
Sind Kinder in der Natur also wirklich eine «fast aussterbende Spezies» (Louv), aus der Natur ausgesperrt und in Innenräume verbannt (Weber) und die heutige Kindergeneration «die erste seit Menschengedenken, die ohne Beziehung zur Natur aufwächst» (ein Arbeitspapier der Stadt Zürich)?
Tatsächlich ist für viele Kinder heute die Natur sehr fern. Wer in der Schweiz lebt, wohnt mit grosser Wahrscheinlichkeit in einer Stadt: Drei Viertel der Bevölkerung drängeln sich in Städten und Agglomerationen. Obwohl in Deutschland nur 14 Prozent der Landesfläche als Siedlungs- und Verkehrsfläche genutzt wird, leben alleine 30 der 80 Millionen Einwohner in einer der elf grössten Städte und ihrem dicht besiedelten Umland.
So ganz neu ist dieser Befund übrigens nicht: Schon in den 1960er-Jahren beklagte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich «Die Unwirtlichkeit unserer Städte». Kinder brauchten «Dreck, Gebüsche, Spielraum» – und wüchsen doch auf asphaltierten Strassen und in gepflasterten Hinterhöfen auf.
Wo gibt es noch genügend Wiesen und Brachflächen, wo Kinder ungestört und unbeaufsichtigt herumtoben können? Wo ist der Wald so nahe, dass sich die jungen Abenteurer Unterschlupfe und Baumhäuser bauen können – und wo ist das noch erlaubt?
Wann hat Ihr Kind oder Enkel das letzte Mal allein oder mit Freunden wirklich in der freien Natur gespielt – nicht auf einem asphaltierten Hof, nicht auf einem mit viel Plastik und Metall möblierten Spielplatz, nicht in einem Freizeitpark oder auf einer Skateranlage?
Beschränkt, ja fast zunichte gemacht wird die unmittelbare Naturerfahrung von Kindern nicht nur durch die (gross-)städtisch geprägte Umgebung, auch durch vermeintliche oder wirkliche Gefahren, dicht gedrängte Zeitpläne, die allgegenwärtige Präsenz moderner Medien und ein verändertes Verhältnis zur Natur.
Haben wir früher «auf der Strasse» gespielt, ist heute der Gedanke allein ein Schreckensszenario. Strassen sind für den Verkehr da, nicht für Kinder. Eltern, die in den Medien ständig von Kindesentführung und Missbrauch lesen, begleiten ihre Sprösslinge nach Möglichkeit überall hin und «Taxi Mama» ist dauernd unterwegs. Eine Mutter berichtet in einem Internet-Blog zwar, sie selbst sei mit acht oder neun schon alleine mit Zug und Tram ins Stadion gefahren. Heute aber zieht sie den Schluss: «Man kann wohl nicht mehr den Kindern einfach zeigen, wo sie durchmüssen und sie dann alleine losziehen lassen.»
Studien in Deutschland befanden, dass sich noch 1990 drei Viertel der damals befragten Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahren täglich im Freien herumtreiben durften; gute zehn Jahre später waren es schon weniger als die Hälfte. Feuer ist gefährlich, Pflanzen können giftig (siehe auch: Giftige Pflanzen) sein, und auf den Walderdbeeren lauert der Fuchsbandwurm. Wann haben Sie mit den Kindern zuletzt Kartoffeln in der Asche gebraten oder ihnen erlaubt, alleine loszuziehen, um Kaulquappen zu fangen?
Schon die sechsjährige Lena verbringt vier bis fünf Stunden täglich in der Schule. Beim Sechstklässler Nico sind es bereits sechs bis sieben Stunden Schule und eine Stunde Hausaufgaben. Junge Gymnasiasten haben häufig bis 16 Uhr Unterricht – wenn sie dann endlich zu Hause sind, bleibt gerade noch Zeit für die Vorbereitung auf die nächste Klassenarbeit.
Nach der Schule steht für die meisten Kinder eine organisierte Freizeitaktivität an, ob es nun Fussball, Musik- oder Ballettunterricht, Englischkurs oder Kinderturnen ist. Nachhilfe gehört ebenfalls zum Schulalltag – der Schweizer Kinderarzt Remo Largo schätzt, dass in bestimmten Regionen 70 bis 80 Prozent der Sechstklässler zum Nachhilfeunterricht gehen, um ins Gymnasium zu kommen. Rechnet man zu diesem Programm noch die zehn bis elf Stunden Schlaf hinzu, die Sechs- bis Dreizehnjährige brauchen, ist ein grosser Teil des Tages – gelaufen.
Der verbleibende Rest wird oft mit Medienkonsum ausgefüllt. «Freunde treffen» und «draussen oder drinnen spielen» stehen zwar auf der Hitliste der Dinge, die Kinder am liebsten tun, ganz obenan. Doch die Realität sieht anders aus: Während 76 Prozent der deutschen Kinder täglich fernsehen, kommen nur 43 Prozent dazu, täglich ihre Freunde zu treffen. Nur die Hälfte kann jeden Tag draussen oder drinnen spielen (Studie «Kinder und Medien» 2010).
Sechs- bis Dreizehnjährige in Deutschland sitzen anderthalb Stunden täglich vor dem Fernseher, ihre Altersgenossen in der Deutschschweiz (laut Zahlen von 2008) durchschnittlich 72 Minuten. Ein bis zwei Stunden am Computer kommen dazu, auch schon bei kleineren Kindern; sie spielen, hören Musik, chatten, surfen und kommunizieren über Facebook und Co. In Grossbritannien sollen Kinder zwischen sechs und sechzehn Jahren schon mehr als vier Stunden täglich vor dem Fernseher und im Internet verbringen.
Die Industrie ist sehr geschickt darin, immer neue Spielzeuge auf den Markt zu bringen und Bedürfnisse danach zu wecken. Das meiste davon ist für den Gebrauch im Hause gedacht: Laut dem Geschäftsführer des Bundesverbandes des Spielwaren-Einzelhandels waren die Trends des Jahres 2011 «Sammeln, Multimedia und Action». Schon 2005 listete eine europäische Studie eine Autorennbahn, ein Party-Set für Karaoke, Tischfussball, den Schminkkopf «My Model» und den Game Boy als die Lieblingsspiele von Kindern auf.
Spielzeug, das der Fantasie freien Raum lässt, das nicht zu «Immer-mehr-davon-haben-Wollen» verführt, ist out. «Kieselsteine aus dem Bach und Holzklötzchen mit und ohne Rinde boten uns das beste Baumaterial, um daraus Häuser, Dörfer, ja sogar Schlösser erstehen zu lassen» (Alfred Vogel) – damit wird man heute kaum einen Zehnjährigen von der Spielkonsole weglocken können. «Ich spiele lieber drinnen, wo die Steckdosen sind», äusserte sich ein Viertklässler gegenüber Richard Louv.
Und wiederum tragen auch die Eltern einen Teil bei: Viele stecken in der Zwickmühle, dass sie Kinder nicht alleine vor die Tür lassen wollen, in Beruf und Haushalt aber so eingespannt sind, dass sie keine Zeit haben, die Sprösslinge dauernd zu begleiten. Daher sind manche sicherlich durchaus zufrieden, wenn dort gespielt wird, wo die Steckdosen sind.
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«Kinder ohne unmittelbare Umwelterfahrung fangen an, Natur mit Angst und Untergangsvisionen zu assoziieren statt mit Glück und Staunen», so drastisch formuliert es Richard Louv.
Die Antworten der Kinder, denen alles über den Untergang des Regenwaldes beigebracht wurde, lassen tatsächlich auf ein gewisses Unbehagen im Umgang mit dem eigenen Wald schliessen: Im «Jugendreport Natur 2010» sind über 90 Prozent der Jugendlichen dafür, die Natur sauberzuhalten, 85 Prozent fangen keinerlei Tiere, rühren Pflanzen nicht an, und 40 Prozent bleiben immer auf den Wegen. Der Verfasser, der deutsche Soziologe Rainer Brämer, stellt fest, dass immer mehr befragte Kinder das Betreten des Waldes für schädlich halten und «sich selbst aussperren».
Natur muss geschützt werden, um den Preis, sie nicht mehr sinnlich zu erfahren. Sie ist nicht zum Anfassen da: Jeder Zweite schaut Tiere gerne an, die meisten wollen sich aber nicht näher mit ihnen beschäftigen. Enten zu füttern oder einen Käfer über die Hand krabbeln zu lassen – das kann sich nur jeweils ein gutes Drittel der Kinder vorstellen, einen Ritt auf einem Pferd gar nur 20 Prozent.
Kinder erleben die Natur nicht mehr als robusten Spielplatz, als unverwüstlichen Kletterbaum, als tierischen Gefährten – sondern als fragil, zerbrechlich, gefährdet. Mir scheint, die Zeit, wo wir auch einmal zwei Hirschkäfermännchen einander gegenübersetzten, um sie kämpfen zu lassen, war vielleicht nicht die politisch-ökologisch korrekte, ganz sicher aber die unbefangenere.
Wohl nicht zufällig geht der Verlust des freien, aktiven Umhertobens mit der Zunahme von Übergewicht bei Kindern einher. Dieser Trend ist ungebrochen: nach neuesten Zahlen sind gut 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland und der Schweiz zu dick. Obwohl Sportunterricht an den Schulen gefördert wird (oder zumindest gefördert werden soll), obwohl immer mehr Jungs und Mädchen in den Sportvereinen angemeldet werden, prägt Bewegungsmangel den Alltag allzu vieler Sprösslinge.
«Bewohner der Rücksitze» nennt Andreas Weber jene Junioren, die mit «Taxi Mama» in die Schule, von der Schule zum Cellounterricht und vom Cellounterricht zur Nachhilfe transportiert werden. Böse formuliert Erziehungsexperte Remo Largo: «Eltern tragen ... kaum zur Entwicklung ihrer Kinder bei, ausser dass sie sie herumkarren.»
Über ein Viertel der Schweizer Kinder, die ausserhalb des Sportunterrichts in der Schule keinerlei Sport treiben, nennen fehlende Zeit als Hauptgrund, stellt das Schweizerische Bundesamt für Sport Baspo fest. Vor allem am Wochenende scheint die Trägheit überhand zu nehmen: Nur 40 Prozent der Kinder bewegen sich am Wochenende mehr als zwei Stunden, und fast jedes fünfte ist am Wochenende völlig inaktiv.
Hyperaktive Kinder und das «Ritalin der Natur» Natur ist auch eine heilende Kraft. Nicht nur in Form von Arzneimitteln aus heilkräftigen Pflanzen – schon oft genug wurde belegt, dass der Aufenthalt in der Natur heilt, dass Patienten, die aus einem Krankenhauszimmer ins Grüne schauen können, schneller gesund werden und weniger Schmerzen haben, dass sogar Folteropfer in «Heilgärten» Linderung für Körper und Seele finden.
Die so genannte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS gilt heute als eine der häufigsten Ursachen von Verhaltensstörungen und schulischen Problemen. Behandelt wird vor allem medikamentös: In den vergangenen 20 Jahren seien die Verordnungen für Methylphenidat (Ritalin) um mehr als das Hundertfache gestiegen, konstatiert die Süddeutsche Zeitung.
Auch hier kann Natur viel bewirken. Viele Eltern haben schon selbst die Erfahrung gemacht, dass ihr hyperaktives Kind in der freien Natur viel ruhiger ist und sich besser konzentrieren kann. Das wird durch eine ganze Reihe von Untersuchungen an Kindergartenkindern in Skandinavien, Waldkindergärtlern und Schulkindern gestützt: Die Knirpse spielen an natürlichen Plätzen mehr, fantasievoller, länger und versunkener. Kinder, die einen Waldkindergarten besuchen, sind aufgeweckter, körperlich geschickter, kreativer und erfinderischer.
Auch der – nicht unumstrittene – Neurobiologe Gerald Hüther setzt bei ADHS auf Natur: Bei den Angeboten seiner «Sinn-Stiftung» verbringen betroffene Kinder acht Wochen auf einer Alp. Sie betreuen die Tiere, helfen beim Käsemachen mit, erleben viel Natur und entdecken in diesem Rahmen ihre Stärken und Potenziale – ohne Psychopharmaka. «Je grüner die Umgebung, in der die wilden Knirpse spielen, desto schwächer sind ihre Symptome», fasst die Schweizer Sonntagszeitung zusammen.
Sicherlich ist der Naturverlust der heranwachsenden Generation bei uns noch nicht so schwerwiegend, dass wir gleich eine Gegenbewegung gründen müssten – in den USA entstand als Reaktion auf das Buch von Richard Louv die Initiative «No Child Left Inside» (kein Kind bleibt drinnen). Sie will dem Trend zur «Superförderungs-Erziehung» entgegentreten. Statt die Kinder mit Bildungs- und Lernangeboten von Frühenglisch bis zum Kreativkurs zu überschütten, sollen die Sprösslinge wieder Zeit und Freiheit bekommen, die sie umgebende Welt zu erkunden. Aber ein bisschen mehr Matsch, ein bisschen mehr Mut zur wilden Kindheit, zu Dreck, zum Anfassen und zum Erforschen und Erleben der Natur mit allen Sinnen könnte auch hierzulande nicht schaden. Kinder brauchen sinnliche Erfahrungen in Freiheit.