Schon mal etwas vom glymphatischen System gehört? Es wurde gerade mal vor einem Dutzend Jahren entdeckt. Ein kleiner Wissenschaftskrimi.
Text: Claudia Rawer
Der menschliche Körper besitzt eine eigene «Müllabfuhr». Stoffe, die nicht mehr gebraucht werden, «Abfall» aus dem Stoffwechsel, werden über das lymphatische System abtransportiert. Ein Filtrat unseres Blutplasmas sickert langsam durch die Körpergewebe – das Plasma ist jene wässrige, gelbliche Flüssigkeit, die gut die Hälfte unseres Blutes ausmacht. Die Lymphgefässe transportieren dieses Filtrat in die Venen, und über das venöse Blut gelangt die Flüssigkeit mitsamt den aufgesammelten Abfallprodukten in die «Kläranlage» Leber. Ein ausgeklügeltes System, das unseren Körper lebenslang reinigt und entgiftet.
Doch unser Gehirn, schliesslich eines unserer wichtigsten Organe, erreicht das Lymphsystem nicht. Die sogenannte Blut-Hirn-Schranke, eine Sicherheitsbarriere, die das Gehirn vor Krankheitserregern, Giften und Schadstoffen schützt, verwehrt dem Flüssigkeitsstrom der Lymphe den Zutritt. Wie also wird der Stoffwechselabfall des Gehirns entsorgt?
Biologen, Medizinerinnen und andere Wissenschaftler vermuten schon seit dem 19. Jahrhundert, dass es ein effektives Abfallentsorgungssystem auch für das Gehirn geben muss, und dass wahrscheinlich der Liquor (die Körperflüssigkeit, die im zentralen Nervensystem, also Gehirn und Rückenmark zirkuliert), dabei eine Rolle spielt. Wie das aber ablaufen könne, davon wusste man bis ins 21. Jahrhundert kaum etwas.
Im Jahr 2012 konnte eine Arbeitsgruppe um die dänische Neurobiologin Maiken Nedergaard und den Amerikaner Jeffrey Iliff nachweisen, dass ein eigenes Abfallentsorgungssystem existiert und wie es funktioniert. Sie tauften es glymphatisches System, eine Wortschöpfung, die sich auf die Gliazellen des Nervengewebes und eben das schon bekannte Lymphsystem bezieht.
Professor Nedergaard wirkt heute wie damals am Medizinzentrum der Universität Rochester, einer privaten Uni in New York sowie an der Universität Kopenhagen. Der damalige Nachwuchswissenschaftler Iliff arbeitet heute an einem Gesundheitszentrum im US-Staat Washington, dass sich hauptsächlich um die Gesundheit von Kriegsveteranen und ihren Familien kümmert. Dass er dieses Fachgebiet wählte, ist sicherlich kein Zufall. Schlafstörungen, wie sie nach traumatischen Ereignissen, ob Kriegserlebnisse, Verletzungen oder Trennungen häufig auftreten, können die Arbeit des glymphatischen Systems beeinträchtigen. Dazu später mehr.
Das Gehirn ist einerseits durch die Blut-Hirn-Schranke gut isoliert, andererseits sehr stoffwechselaktiv. Die Hirnmasse macht zwar nur etwa zwei Prozent unseres Körpergewichts aus, verbraucht aber sehr viel Energie: bis zu einem Viertel des gesamten Grundumsatzes! Bei den Stoffwechselprozessen im Gehirn fallen täglich etwa sieben Gramm an potenziellen Schadstoffen an. Das können Zellbruchstücke sein, andere giftige Stoffe oder Proteine, die sich nachteilig verändert haben.
So ist beispielsweise das Tau-Protein ein wichtiges Eiweiss des Gehirns, das die Nervenzellen stabilisiert. Wenn sich jedoch Phosphate an dieses Protein binden können, verliert es seine Funktion. Ablagerungen des mit Phosphat «verseuchten» Eiweisses stören die Funktion der Nervenzellen und führen zu einem fortschreitenden Verlust von Gehirnfunktionen, z.B. bei Alzheimer oder Demenz. Die sieben Gramm pro Tag, die dementsprechend entsorgt werden müssen, summieren sich in einem Jahr zu etwa zweieinhalb Kilogramm, eine gewaltige Menge.
Wie hat man sich das glymphatische System und seine Arbeit nun vorzustellen? In mehrere Schritte aufgeteilt und vereinfacht, funktioniert die Drainage, soweit bislang bekannt, in etwa so:
Nun weiss man also, wie unser Gehirn seine Stoffwechselabfälle loswird. Anfangs wurde die Entdeckung von Nedergaard und Iliff zwar skeptisch betrachtet: Man sprach von vorläufigen Ergebnissen, und fast jeder, der etwas dazu zu sagen hatte, beeilte sich hinzuzufügen, dass das alles bislang nur eine Hypothese sei. Die Vermutung verdichtete sich jedoch schnell zu einer Gewissheit.
Heute, nur ein Dutzend Jahre später, wird am glymphatischen System fieberhaft geforscht, und es tun sich immer mehr Erkenntnisse auf. Dabei stiess man beispielsweise auf eine Besonderheit, die das glymphatische vom lymphatischen System unterscheidet. Ersteres arbeitet wohl vor allem während des Schlafes. Bei Mäusen wurde beobachtet, dass der Liquor in ihrem glymphatischen System im Wachzustand bis zu 60 Prozent abnahm. Andersherum gesehen, ist die Aktivität des glymphatischen Systems im Schlaf stark erhöht. Dieser Schlaf muss allerdings natürlicher Art sein. Künstlich, etwa durch die Einnahme von Schlafmitteln oder anderen Medikamenten, kann das System nicht zum Arbeiten gebracht werden.
Magnesium trägt zur normalen Funktion des Nervensystems und normalen psychischen Funktion bei.
Zu den Erkrankungen, bei denen das neu entdeckte Körpersystem eine Rolle spielen könnte, gehören chronische Migräne sowie vier bislang unheilbare und oft schreckliche Krankheiten: Alzheimer, Parkinson, die amyotrophe Lateralsklerose und die chronisch traumatische Enzephalopathie. Amyotrophe Lateralsklerose oder ALS, die Krankheit, an der der Physiker Stephen Hawking litt, ist eine degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems. Die Pyramidenbahnen, die die Bewegungsbefehle des Grosshirns zu den Muskeln im Körper leiten sollen, und die Skelettmuskeln selbst schwinden bei ALS zunehmend dahin.
Die chronisch traumatische Enzephalopathie (CTE), früher auch Boxerkrankheit genannt, ist eine fortschreitende degenerative Erkrankung des Gehirns bei Menschen, die mehrere Schädel-Hirn-Traumata erlitten haben. Heute spricht man eher von der Footballer-Krankheit: Forscher fanden CTE bei 345 von 376 früheren Spielern der amerikanischen National Football League. Der amerikanische «Fussball» wird bekanntermassen überaus aggressiv und unter heftigem Körpereinsatz gespielt.
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Wissend, dass das glymphatische System wesentlich im natürlichen Schlaf arbeitet, stellt sich natürlich die Frage: Was passiert, wenn das Abwassersystem des Gehirns gestört und damit nicht wirksam genug ist, bzw. zeitweise ganz ausfällt? Könnte eine fehlerhafte «Müllabfuhr» z.B. zu unerwünschten Ablagerungen im Gehirn führen, wie sie von der Alzheimer-Krankheit bekannt sind?
Bei der chronischen Migräne (und auch Kopfschmerz, der durch Übergebrauch von Medikamenten entsteht) fanden die Forscher, dass die Funktionalität sowohl des glymphatischen als auch lymphatischen Systems beeinträchtigt waren. Der Zusammenhang zwischen veränderten Schlafrhythmen und Migräneattacken ist lange bekannt. Reinigt das glymphatische System das Gehirn während des Schlafes, liegt ein Zusammenhang mit dem gestörten Schlaf auf der Hand.
Ähnliches wird auch für Epilepsien vermutet. Bei Alzheimer, Morbus Parkinson, ALS und CTE spricht man von neurodegenerativen Erkrankungen. Sie stehen im Zusammenhang mit den Ablagerungen bestimmter Proteine im Gehirn. Eine Einschränkung des glymphatischen Systems könnte dazu führen, dass krankhaft oder krankheitsfördernd veränderte Eiweisse, z.B. das Beta-Amyloid bei Alzheimer, nicht mehr ausreichend abgebaut werden. Schädigungen des «Gehirn-Abwassersystems» durch Alterungsprozesse oder durch Traumata könnten ebenfalls im Zusammenhang mit diesen Erkrankungen stehen.
Der Kreis schliesst sich mit der Beobachtung, dass Schlafstörungen und Schlafmangel die Ablagerung der Proteine fördert und die Wahrscheinlichkeit für neurodegenerative Erkrankungen erhöht. Natürlich ist trotz aller Erfolge und der weitergehenden Forschung noch keine Therapie für solch schwere Erkrankungen gefunden. Doch jeder kleine Schritt nach vorne, jeder neue Befund und jeder noch so kleine Erfolg zählen. Die Entdeckung des glymphatischen Systems, die Zusammenhänge, die in gerade mal einem Dutzend Jahre gefunden wurden, lassen uns hoffen – gerade bei Erkrankungen, die uns in ihrer brutalen Ausweglosigkeit bislang kaum eine Chance auf Hoffnung bieten.