Wo liegt die Grenze zwischen dem gesunden Durchsetzungsvermögen, das jede und jeder von uns braucht, und dem Starrsinn, der mit dem Kopf durch die Wand will? A.Vogel hat sich mit einem Experten darüber unterhalten.
Bei Jugendlichen, in Partnerschaften, bei älteren Menschen – oft stellt sich die Frage: Wie verhalten wir uns, wenn Meinungen aufeinanderprallen und wenn unser Gegenüber sich uneinsichtig oder gar starrsinnig zeigt.
Das Gespräch mit lic. phil. Rolf Jud führte Adrian Zeller (10.07)
A.Vogel Gesundheits-Nachrichten (GN): Herr Jud, als Mensch braucht man ein gewisses Mass an Durchsetzungsvermögen, damit lebenswichtige Bedürfnisse befriedigt werden. Lässt sich sagen, wann Selbstbehauptung zur unvernünftigen Sturheit wird?
Rolf Jud: Sturheit kann dort beginnen, wo sich Menschen nicht beachtet oder nicht ernst genommen fühlen. In Ex-tremfällen kann dies sogar krankhafte Formen annehmen.
Starr fixierte Haltungen haben nach meiner Erfahrung sehr viel mit der Situation in einer Beziehung zu tun. Dort, wo ich ein Gegenüber habe, das mir zuhört und auf mich eingeht, kommt es weniger leicht zur Fixierung auf eine Position.
Bei meiner Beratungstätigkeit mit Paaren stelle ich immer wieder fest, dass es zu sturen Haltungen kommt, wenn es auf der Beziehungsebene nicht mehr stimmt. Die Partner können einander nicht mehr zuhören und mit Verständnis und Wohlwollen reagieren, es geht einzig darum, recht zu haben.
GN: Während der Pubertät lassen sich manche Jugendliche von den Eltern und auch von anderen Erwachsenen kaum mehr etwas sagen. Noch so gut gemeinte Warnungen und Ratschläge scheinen abzuprallen.
Rolf Jud: In der Pubertät sind die Jugendlichen in einer Phase der Neuorientierung. Sie suchen nach einer eigenen Identität und wollen sich abgrenzen und ablösen. Sie glauben, ihre Sicht der Welt sei die einzig richtige. Auf der anderen Seite sind die Eltern mit ihrer Lebenserfahrung überzeugt, dass ihre Ansichten die richtigen sind.
Zum Teil kommen ihre Ermahnungen bei den Jugendlichen als Besserwisserei an. Sie wollen sich nichts mehr sagen lassen; das kann stur wirken. Wenn beide Seiten auf ihren Positionen beharren, kann es leicht zu Spannungen kommen.
GN: Wie sollen Eltern auf sich stur stellende Kinder reagieren? Sind eher Sanktionen oder gutes Zureden angemessen?
Rolf Jud: Für mich zeigt sich in der Therapie mit Jugendlichen immer wieder, wie wichtig es ist, mit ihnen einen partnerschaftlichen Dialog zu führen. Im Ge-spräch geht es darum, sich zu erklären: Weshalb vertrete ich meinen Standpunkt? Was sind meine Erwartungen?
Nach meiner Erfahrung gelingt es an-schliessend, mit mehr Verständnis für die andere Seite nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen.
GN: Vereinzelt scheinen Erwachsene aus ihren Fehlern kaum etwas zu lernen. Da ist beispielsweise die Frau, die zum zweiten Mal an einen extrem eifersüchtigen und gewalttätigen Partner gerät, obwohl ihre Freundin sie dringend gewarnt hatte. Weshalb handeln manche Erwachsene so uneinsichtig und sogar selbstschädigend?
Rolf Jud: Bei Partnerschaften ist oft zu beobachten, dass ähnlich gelagerte Beziehungen eingegangen werden. Mit ihren inneren Einstellungen und Mustern kann es passieren, dass Menschen im-mer wieder an gleich geartete Personen geraten, auch wenn sie sich diese nicht bewusst aussuchen. Ich erlebe in Therapien sehr oft, wie bei den Klienten im-mer wieder ähnliche Mechanismen ab-laufen. Erst wenn sie selbst verstehen, was geschieht, sind sie bereit, Veränderungen vorzunehmen.
GN: Wie soll man sich als Angehöriger oder als Freund verhalten, wenn man feststellt, dass jemand stur ins eigene Unglück rennt?
Rolf Jud: Das Vorgehen sollte nicht im Sinne einer Besserwisserei sein, andernfalls ist mit Abwehrreaktionen zu rechnen. Am zweckmässigsten ist es, seine Sicht der Dinge zu schildern und dabei von eigenen Eindrücken und Empfindungen auszugehen und sie in Ich-Botschaften zu formulieren.
Dabei sollte man die Gewissheit betonen, dass die andere Person eine für sie richtige Entscheidung trifft. Andernfalls steigt die Gefahr, dass sich diese erst recht in einen unvorteilhaften Weg verrennt. Als Freund oder Angehöriger kann man weiter anbieten, für den anderen da zu sein, falls etwas schief geht. Mehr kann man nicht tun. Wenn jemand überzeugt ist, auf dem richtigen Weg zu sein, wird er oder sie diesen Weg unbedingt gehen wollen.
GN: Manche Menschen neigen im Alter zur Sturheit. Im eigenen Garten klettern sie noch auf Leitern, dabei sind sie schon längst nicht mehr sicher auf den Beinen. Andere weisen den Gedanken ans Al-tersheim vehement von sich, obwohl ihr Haushalt zunehmend vernachlässigt wirkt. Weshalb machen sich diese Senioren gewissermassen selbst das Leben schwer?
Rolf Jud: Grundsätzlich können dafür auch krankheitsbedingte Gründe ausschlaggebend sein. Dagegen können gesunde ältere Menschen ihre Situation in der Regel durchaus realistisch einschätzen. Meiner Meinung nach fühlen sie sich in einer Gesellschaft ausgegrenzt, in der nur jene, die im Erwerbsleben stehen als vollwertig definiert werden. Um zu zeigen, dass sie durchaus noch leistungsfähig sind, überfordern sie sich gelegentlich. Auf der Gegenseite steht die jüngere Generation, die oft vorschnell zu älteren Menschen meint, dieses oder jenes funktioniere bei ihnen nicht mehr gut, und sie gehörten ohnehin allmählich ins Altersheim.
Während in der Schule oft von Integration möglichst aller Kinder die Rede ist, wird das gleiche bei älteren Menschen in der Gesellschaft noch viel zu wenig angestrebt.
GN: Wie können erwachsene Kinder angemessen auf starrsinnig wirkendes Verhalten von betagten Eltern reagieren?
Rolf Jud: Meiner Meinung nach geht es darum, älteren Menschen immer wieder zu zeigen, wo ihre Stärken liegen, beispielsweise in ihrem Vorsprung an Erfahrung. Sie können auch bei einfachen Betreuungsaufgaben eingesetzt werden. So erfahren sie immer wieder Wertschätzung. Erwachsene Kinder sollten ge-schickt vorgehen und den älteren Menschen Aufgaben übergeben, die sie gut erledigen können. Nur was sie überfordern könnte, sollte man ihnen in respektvoller Art abnehmen.