Kinder, die zu früh mit verschiedenen Sprachen konfrontiert werden, sind möglicherweise überfordert, sagen die einen. Kinder sind in der Lage, sogar zwei oder drei Fremdsprachen zu lernen, glauben die anderen. Was spricht für und was gegen frühes Sprachenlernen?
Autor: Fabrice Müller (6/15)
Für die zehnjährige Tochter und den 14-jährigen Sohn von Carmen Fasel bringt der Französischunterricht an der Primar- bzw. Oberstufe konkreten Nutzen mit sich: «Wir sind regelmässig in Fribourg zum Einkaufen unterwegs und können dort die Französischkenntnisse eins zu eins anwenden. Ausserdem haben wir französischsprachige Familien in der Nachbarschaft, mit denen wir uns ebenfalls in der zweiten Landessprache unterhalten», berichtet die Mutter aus Düdingen. Im Kanton Fribourg besuchen die deutschsprachigen Kinder in der dritten Klasse den Französisch- und in der fünften Klasse den Englischunterricht. Natürlich bedeute das Lernen von zwei Fremdsprachen für manche Kinder eine Herausforderung, sagt Carmen Fasel. Gleichzeitig sei dies aber auch eine grosse Chance, daran zu wachsen und die Kommunikation innerhalb der Schweiz zu fördern. Damit der Französisch- und Englischunterricht auf Primarschulstufe erfolgreich verlaufe, brauche es auch das Engagement und die richtige Einstellung der Eltern. Sie könnten ihre Kinder beim Lernen unterstützen und motivieren.
Der Unterricht in der zweiten Landessprache der Schweiz hat hierzulande eine lange Tradition. Die ersten Kantone führten das «Frühfranzösisch» bzw. das «Frühdeutsch» in den 1970er-Jahren ein. Ende der 90er-Jahre war die zweite Landessprache ab dem vierten oder fünften Schuljahr in fast allen Kantonen Standard. Die Vorverlegung des Englischen auf die Primarschulstufe (je nach Kanton Klasse 1 bis 4 oder 1 bis 6) ist dagegen jüngeren Datums und erfolgt nach kantonalen Zeitplänen. In einigen Kantonen haben die ersten Jahrgänge mit zwei Fremdsprachen in der Primarschule bereits abgeschlossen, in anderen Kantonen ist man erst vor Kurzem gestartet.
Die Überarbeitung des Sprachenkonzepts an der obligatorischen Schule drängte sich in den 90er-Jahren auf. Grund: neue Erkenntnisse aus der Sprachlernforschung und der Fremdsprachendidaktik; zudem planten einige Kantone die Vorverlegung des Englischen auf die Primarschulstufe. Die Kantone sahen sich mit der Aufgabe konfrontiert, eine gesamtschweizerisch koordinierte Lösung zu finden.
In welchem Alter Schüler in Deutschland mit einer Fremdsprache beginnen, hängt vom Bundesland ab, in dem sie wohnen. In der Regel ist das mit acht Jahren in der dritten Klasse. Damit liegt Deutschland im europäischen Durchschnitt. Manche Bundesländer wie Hessen bieten schon ab der ersten Klasse an, eine andere Sprache in freiwilligen Stunden kennenzulernen. Vorreiter in Sachen Fremdsprachenunterricht ist Nordrhein-Westfalen. Dort lernen die Kinder ab der ersten Klasse Englisch. Bundesweit kommt die zweite Fremdsprache in Klasse 7 hinzu, meist Spanisch oder Französisch.
Die Grundlage für die koordinierte Weiterentwicklung des Fremdsprachenunterrichts bildet die Sprachenstrategie der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) von 2004. Gemäss dieser Strategie wird die erste Fremdsprache in fast allen Kantonen spätestens ab dem dritten und die zweite spätestens ab dem fünften Schuljahr unterrichtet.
Während in der Romandie (der französischsprachigen Schweiz) eine einheitliche Reihenfolge beschlossen und umgesetzt wurde (zuerst Deutsch, dann Englisch), ist dies in der deutschsprachigen Schweiz nicht der Fall: Der «Reussgraben» trennt sie in zwei Gebiete mit unterschiedlichem Beginn.
Der Unterricht in der zweiten Landessprache soll nun in einigen Kantonen wie etwa Thurgau, Nidwalden, Luzern oder Schaffhausen sogar auf die Sekundarstufe (ab Klasse 7) verlegt werden.
Nach der Verabschiedung der EDK-Strategie 2004 kamen in einigen Kantonen Volksinitiativen mit dem Titel «Nur eine Fremdsprache an der Primarschule» zustande. Das damalige Hauptargument war, dass der Unterricht von zwei Fremdsprachen für viele Schülerinnen und Schüler eine Überforderung darstelle. Die Initiativen wurden in vier Kantonen abgelehnt und in Luzern von den Initianten zurückgezogen. Zehn Jahre später sind in Graubünden vergleichbare Volksinitiativen zustande gekommen bzw. kürzlich im Kanton Nidwalden abgelehnt worden. Im Kanton Luzern wurde 2014 erneut eine Volksinitiative eingereicht.
Was sind die Argumente der Gegner von zwei Fremdsprachen an der Primarschule? Zu viele Kinder seien heute mit zwei obligatorischen Fremdsprachen überfordert, findet Jörg Luzi vom Bündner Initiativkomitee «Nur eine Fremdsprache in der Primarschule». Ziel der Initiative sei es, die Kompetenz der Kinder in der Muttersprache und in der Frühfremdsprache zu stärken. Ausserdem wolle man die Primarschule ein wenig von der Sprachenlastigkeit befreien.
«Die Bedeutung der italienischen Sprache im und für den Kanton Graubünden ist genauso unbestritten wie die Tatsache, dass ab der Oberstufe wie bisher zusätzlich Italienisch für deutschsprachige Schulen bzw. Englisch für romanisch- und italienischsprachige Schulen als Fremdsprache unterrichtet wird», sagt Jörg Luzi. Ebenfalls gegen eine zweite Fremdsprache an der Primarschule spricht sich Hanspeter Amstutz von der Arbeitsgemeinschaft für praxisorientierte Schulreformen aus. «Mit Frühenglisch ab der zweiten Klasse und Hochdeutsch haben die Kinder zwei umfangreiche Aufgaben zu bewältigen. Gleichzeitig noch mehr Sprachen zu lernen, führt bei vielen Schülern zu Unsicherheiten und einem Verzetteln der Kräfte.»
Der Ausbau des Fremdsprachenunterrichts gehe Hand in Hand mit einem Abbau anderer wichtiger Bildungsinhalte: Die Handarbeit wurde – so Jörg Luzi – in der fünften und sechsten Klasse halbiert, der Fachbereich Realien (Sachunterricht, Fächer wie Geschichte, Geografie und Naturkunde) stehe unter grossem Druck, für «immersives»* Fremdsprachen lernen statt für Deutsch benützt zu werden.
Eine Studie der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz beschäftigte sich mit der Wirksamkeit des Fremdsprachenunterrichts auf der Primarstufe. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass Sprachfertigkeiten in der lokalen Unterrichtssprache Deutsch und in der schulischen Zweitsprache Englisch einen positiven Einfluss auf die dritte Sprache Französisch ausüben. Englisch wirke sich – unabhängig von Deutsch – förderlich auf das Französischlernen aus.
Aus dem Vergleich von Schülerinnen und Schülern mit und ohne vorangehenden Englischunterricht ging weiter hervor, dass Kinder mit Englisch die besseren Französischfertigkeiten aufwiesen als jene ohne Englischunterricht. «Mit dem neuen Modell 3/5, in dem Englisch ab der dritten und Französisch ab der fünften Klasse gelernt wird, erwerben die Primarschüler somit nicht ‹nur› eine neue und zusätzliche Fremdsprache, sie lernen auch noch effizienter Französisch als mit dem bisherigen Modell, weil der Französischerwerb vom Frühenglisch profitiert», so die Studienleiterin Andrea Haenni Hoti.
Die Mehrsprachigkeit entspricht dem heutigen Zeitgeist. Immer mehr Menschen gestalten ihr tägliches Leben in zwei Sprachen, und immer mehr Kinder wachsen mehrsprachig auf. Noch bis in die 1960er-Jahre hinein wurde von Linguisten behauptet, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder benachteiligt seien. Seit den 70er-Jahren hingegen gibt es eine Reihe von sprachwissenschaftlichen Untersuchungen, die bestätigen, dass bei einer mehrsprachigen Erziehung mit keinerlei Benachteiligungen zu rechnen ist – eher das Gegenteil trifft zu.
«In Zürich war ich in der Schule ein Italienerknabe, der im Deutschen Schwierigkeiten hatte, weil zu Hause Italienisch gesprochen wurde. Der Lehrer in der Primarschule empfahl denn auch meiner Mutter, mit mir Deutsch zu sprechen, obschon sie nur ein gebrochenes Schweizerdeutsch sprach. Glücklicherweise tat sie es nicht. Als ich vierzehn war, zog meine Familie ins Tessin. Meine Italienischkenntnisse waren für die schulischen Anforderungen absolut ungenügend. Trotzdem wurde ich ins Gymnasium aufgenommen mit dem Hinweis, dass ich ja Deutsch könne. In Zürich galten meine Italienischkenntnisse als Hindernis, in Lugano war mein Deutsch ein Pluspunkt», erinnert sich Claudio Nodari vom Institut für interkulturelle Kommunikation und Autor des Buches «Mehrsprachige Kinder». Mehrsprachigkeit kann in der heutigen Gesellschaft eine Chance wie auch ein Prestigewert sein, mit wirtschaftlichem Nutzen und kulturellem Gewicht.
Was bedeutet es, als Kind mehrsprachig aufzuwachsen? Für jede Person sind die Sprachen, die sie spricht, Teil ihrer Identität. Zweisprachige Menschen beispielsweise fühlen sich als Teil zweier sprachlicher und kultureller Gemeinschaften. Die Erstsprache ist die erste Sprache, die ein Kind von Geburt an hört und lernt.
«Es handelt sich um die wichtigste Beziehungssprache, denn es ist die Sprache, in der die Liebe von den Eltern, Geschwistern und von anderen Bezugspersonen erlebt wird. In der Erstsprache lernt das Kind nicht nur die Menschen um sich herum kennen, es erlebt auch die ganze Welt durch Spielen und Handeln zusammen mit seinen Bezugspersonen», sagt Nodari. Zweisprachig aufwachsende Kinder dagegen erleben mit wichtigen Bezugspersonen zwei Erstsprachen.
Kinder können aber auch dreisprachig gross werden, wenn zum Beispiel neben den Eltern ein Kindermädchen eine dritte Sprache mit dem Kind spricht. Nodari: «Das mehrsprachige Kind hat im Prinzip mehr als eine Sozialisationssprache, mehr als eine Beziehungssprache, mehr als eine Lernsprache. Das erfordert vom Kind eine sehr grosse Lernleistung. Menschen sind aber fähig, von Geburt an mehr als eine Sprache zu lernen.»
Wie stark sich die einzelnen Sprachen entwickeln, hänge im Wesentlichen von der Intensität der sprachlichen Kontakte mit dem Kind ab. Wenn eine Familie eine andere Sprache spricht als die Umgebung, lernt das Kind die Sprache der Familie als Erstsprache, danach die Sprache der Umgebung als Zweitsprache.
Je früher der Kontakt mit der Zweitsprache erfolgt, umso einfacher lernen Kinder sie. In der Kindertagesstätte, Spielgruppe oder im Kindergarten kommt das Kind in Kontakt mit Menschen, die eine andere Sprache als die Bezugspersonen in der Familie sprechen. Das Kind lernt dadurch nicht nur die neue Sprache, es lernt auch neue Gegenstände, Umstände, Handlungen kennen, die es zu Hause vielleicht nicht gibt. «Die Zweitsprache ist damit auch eine Lernsprache. Sie wird mit der Zeit zu einer Beziehungssprache, denn die Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen in der Umgebung werden in ihr aufgebaut», sagt Claudio Nodari.
Es sei jedoch ein Trugschluss zu glauben, dass mehrsprachige Kinder alle Sprachen stets gleich gut beherrschen. In der Regel ist die eine Sprache stärker ausgebildet als die andere. Je nach Lebensumständen können starke Sprachen zu schwachen werden und umgekehrt. Nodari macht dies an seinem eigenen Beispiel deutlich: «Mit dem Eintritt in die Schule und dem Erwerb des Lesens und Schreibens entwickelt sich Deutsch zunehmend zur starken Sprache, während die Erstsprache im Laufe der Schulzeit zur schwachen Sprache wird. Damit sich nun die Erstsprache – zum Beispiel das Italienische – weiterentwickeln kann, ist es notwendig, dass die Eltern so konsequent wie möglich ihre Erstsprache mit dem Kind sprechen, Geschichten auf Italienisch vorlesen und dem Kind angenehme Beziehungen zu italienischsprachigen Personen ermöglichen, zum Beispiel durch Reisen ins Heimatland.»