Manche mögen schon gar nicht mehr hinhören. Ob man nun wirklich aus ein paar Kilo zuviel ein Problem machen muss, ob nun jedes fünfte oder gar jedes vierte Kind zu dick und jeder Berliner eine Sünde ist – oft führt die Diskussion um die «dicken Kinder» nur dazu, dass Eltern ein schlechtes Gewissen bekommen. Leider ist es aber tatsächlich so, dass es einen Trend zum Zunehmen gibt: heute sind dreimal so viele Kinder übergewichtig oder gar fettleibig wie noch vor 20 Jahren.
Von Dr. Claudia Rawer
Nach Studien der ETH Zürich und anderer Institutionen sind bereits 15 bis 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen zu dick. An Fettleibigkeit (Adipositas) leiden etwa vier Prozent. Dabei geht es nicht um ein bisschen Babyspeck beim kleinen Kevin oder darum, dass Sophie mit ihren vierzehn Jahren ein wenig pummeliger ist als ihre Altersgenossinnen. Massives Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ist ein Problem, das man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.
Dick sein ist nicht lustig. Immer häufiger diagnostizieren Kinderärzte Krankheiten, die bei Kindern und Jugendlichen früher so gut wie unbekannt waren. Bluthochdruck und so genanntes Belastungsasthma sind typische Begleiterkrankungen von Fettleibigkeit und betreffen etwa ein Drittel aller übergewichtigen Kinder. Viele haben bereits eine Insulinresistenz – eine Vorstufe zu Diabetes – und fast alle Schäden an Knochen und Gelenken. Etwa ein Prozent leidet schon im Kindesalter an der Krankheit, die früher Altersdiabetes hiess. Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet Fettleibigkeit als häufigste chronische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Es geht also nicht um Schönheits- oder Körperideale, sondern um die Gesundheit.
Aber auch auf das Selbstwertgefühl wirken sich zu viele überflüssige Pfunde negativ aus. Dicke werden verspottet, ausgelacht und gehänselt. Spätestens in der Pubertät wird die Statur mit dem Geliebt-Werden in Verbindung gebracht: dicke Jungs haben bei Mädchen wenig Chancen, die jungen Männer ziehen die schlanke Klassenkameradin ihrer fülligen Freundin vor.
Unter Medizinern gilt ein Kind dann als zu dick, wenn sein Gewicht 20 Prozent und mehr über dem Normal- oder Idealgewicht, also dem Durchschnittswert für Alter und Körpergrösse, liegt. Auch bei Kindern wird der Body-Mass-Index BMI (Link zum A.Vogel BMI-Rechner) angewendet, der aber, anders als bei Erwachsenen, alters- und geschlechtsspezifisch berechnet wird. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass während des Wachstums das körperliche Erscheinungsbild starke Veränderungen durchmacht. Nach dem zweiten Lebensjahr wachsen Kinder oft sehr schnell, strecken sich und werden vom molligen Baby zum schlanken Kleinkind. Vier- bis Sechsjährige werden von ihren Eltern oft als zu dünn eingeschätzt. Die magere Statur ist aber völlig normal für dieses Alter. Während die Normalgewichtigen sich gerade stre-cken, sind bei übergewichtigen Kindern im Alter von fünf bis sieben Jahren meist schon die ersten Fettpolster sichtbar.
Ein BMI-Wert zwischen 20 und 25, der bei Erwachsenen als normal gelten würde, bedeutet für 10- bis 18-Jährige bereits Übergewicht. Leider werden auch viele der Dickerchen zu übergewichtigen Erwachsenen – weniger Kleinkinder mit Babyspeck und Teenager, die vorübergehend pummelig werden, sondern vor allem Kinder im Vorschulalter. Vier- bis Fünfjährige, die übergewichtig sind, haben ein stark erhöhtes Risiko, es ihr Leben lang zu bleiben.
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Falsche Ernährung und Bewegungsmangel gelten auch bei Kindern als wesentliche Ursachen für Übergewicht. Zucker- und fettreiche Ernährung, Softdrinks, Schokoriegel und Fastfood gelten als «trendig» und werden von Jugendlichen oft «nebenbei» konsumiert. Wer bereits dick ist, tut noch ein Übriges. Laut einer neueren Studie nahmen fettleibige Mädchen im Vergleich zu normalgewichtigen Altersgenossinnen acht Prozent mehr Kalorien zu sich, bei adipösen Buben waren es sogar 18 Prozent. Dicke Jungs nehmen auch 40 Prozent mehr Zucker pro Tag zu sich als die schlanke Vergleichsgruppe. Zuckerreiche Nahrung aber führt in die Essfalle: kurzfristig steigt der Blutzuckerspiegel an, fällt dann schnell wieder ab, und schon überfällt den Menschen Heisshunger auf den nächsten Happen.
Mangel an Bewegung ist wahrscheinlich eines der gravierendsten Probleme – aber auch eines, das sich doch beheben liesse. Wir alle kennen den unbändigen Bewegungstrieb von kleinen Kindern. Beim Spielen, Rennen und Klettern sind sie kaum zu halten, das Gerenne und Gehopse eines Vierjährigen kann uns schwindlig machen. Der Freiraum für solche ungebremsten kindlichen Aktivitäten wird aber zunehmend enger. Eine Verhaltensforscherin nannte das einprägsam den «Verlust der Strassenkindheit». Kleinkinder werden im Buggy geschoben, Schulkinder mit dem Auto zum Unterricht, zum Malkurs und zur Flötenstunde gebracht. Viele Kinder verbringen zu viel Zeit sitzend: ausser in der Schule und beim Hausaufgabenmachen vor dem Fernseher, dem Computerspiel oder beim «Simsen» mit dem Handy. Die Tessiner Kinder-Adipositas-Studie bezifferte die pro Tag mit diesen Medien verbrachte Zeit auf 1,6 Stunden für Mädchen und sogar auf 2,2 Stunden für Jungen. Die Zeit, in der Kinder sich bewegen und damit ihre Muskeln trainieren, beträgt laut einer anderen Untersuchung dagegen gerade mal eine Stunde. Da die früher beim Bäumeklettern, Fangen spielen und Schwimmen im Teich spielend eingeübte sensomotorische Koordination zunehmend fehlt, steigen laut Medical Tribune die Unfallzahlen in den Grundschulen. Können Sie noch den Rumpf beugen und mit durchgedrückten Knien den Boden mit den Fingerspitzen berühren? Über 40 Prozent der 11- bis 17-jährigen können das angeblich nicht mehr. Mehr Bewegung in Schule und Freizeit ist einer der wichtigsten Punkte zur Vermeidung von Übergewicht.
Bereits von Anfang an essen Kleinkinder zu viel Süsses – und zu wenig Gemüse und Obst. Beim Verzehr ungesunder Lebensmittel werde die empfohlene tägliche Höchstmenge von Kindern bis fünf Jahren im Schnitt um mehr als das Doppelte übertroffen, teilt das Max-Rubner- Institut (MRI) in Karlsruhe mit. Ungünstige Essgewohnheiten zeichneten sich dabei bereits im Alter von zwei Jahren ab und wurden mit drei Jahren noch deutlicher: Vorschulkinder essen demnach mehr ungünstige Lebensmittel als Kleinkinder, und Jungen ungesünder als Mädchen. «Es ist beunruhigend, dass Süssigkeiten und Softdrinks bis zu einem Drittel der täglichen Energiezufuhr bei diesen jungen Kindern bis Schuleingang ausmachten», so die Leiterin des Instituts für Kinderernährung am MRI, Prof. Regina Ensenauer. Das sei umso fataler, als die Ernährung in den ersten Lebensjahren das Fundament bilde für die kindliche Entwicklung und Gesundheit und prägend sei für spätere Essgewohnheiten. Ungünstige Essgewohnheiten könnten Folgen für die Hirnentwicklung haben, Übergewicht und Adipositas oder Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes Typ II begünstigen. Tipp für alle Eltern: gesunde, pflanzenbasierte Ernährung «vorleben», also selbst mit gutem Beispiel vorangehen.
Ohne die Eltern, so kann man häufig lesen, werden alle Massnahmen scheitern. Im Elternhaus wird der Grundstein für die gesamte Lebensweise gelegt. Tatsächlich können Eltern viel dafür tun, dass Hänschen zu einem gesunden und kräftigen Hans heranwächst.
Gesunde Ernährung oder vernünftiges Abnehmen – das klappt nur im Familienverband. Versuchen Sie als Eltern, einen gesunden Lebensstil vorzuleben: wenig Fernsehen, 30 Minuten Bewegung pro Tag, bewusstes Einkaufen und Essen. Das sollte man möglichst nicht todernst gestalten, sondern so, dass alle lernen: Essen und Bewegung machen Spass und gehören zur Freude am Leben. Beziehen Sie Verwandte und Freunde mit ein: Opa kann den Kindern erlauben, im Garten zu spielen – auch wenn einmal eine Tomate fällt oder gar ein Ast am Obstbaum dran glauben muss, Papa trainiert mit den Sprösslingen sicheres Radfahren und Papas Freund hat vielleicht einmal Zeit für eine Runde Fussball.
Diäten und Hungerkuren sind für Kinder völlig ungeeignet. Sie können zu Vitamin- oder Mineralstoffmangel führen, etwa zu Kalziummangel und damit zu einer schlechten Entwicklung des Knochenskeletts. Durch Diäten verlieren Kinder oft das Gefühl für Hunger und Sättigung – Essstörungen wie Magersucht oder Ess-Brech-Sucht können folgen. Eine Diät, die nicht zum Erfolg führt, nagt zudem am Selbstwertgefühl der übergewichtigen Kinder, das meist sowieso stark beeinträchtigt ist.
Bereiten Sie, wenn irgend möglich, das Essen frisch zu und vermeiden Sie Fertigmahlzeiten. Versuchen Sie, fettärmer zu kochen und sich an die Regeln der so genannten Ernährungspyramide zu halten: sehr viel Obst, Gemüse und Salate, viel Brot, Nudeln, Reis, Kartoffeln, magere Milchprodukte, weniger Wurst, Eier, Fleisch und Fett.
Geben Sie den Kindern ein gesundes Frühstücksbrot mit in die Schule. Für zwischendurch eignen sich Obst, Jogurt und Quark oder Möhren- und Gurkensticks zum Knabbern. Eine kleine Ration Süsses pro Tag darf auch sein – aber erst nach dem gesunden Snack.
Achten Sie darauf, dass die Kinder viel Wasser oder ungesüssten Tee trinken, das löscht auch besser den Durst.
Lassen Sie die Kinder beim Einkaufen und Kochen helfen: dann lernen sie von klein auf frische Lebensmittel und ihre Zubereitung kennen.
Versuchen Sie, so oft wie möglich gemeinsam und zu regelmässigen Zeiten zu essen. Wenn das aus beruflichen Gründen manchmal nicht klappt, bemühen Sie sich darum, zumindest Frühstück und Abendessen im Kreis der Familie zu geniessen. Das sollte auch allen Spass machen: bei Tisch keine Probleme wälzen, Stressfaktoren wie Fernsehen oder laute Musik ausschalten. Lesen, telefonieren oder gar Streitereien (auch übers Essen!) während der Mahlzeit sind tabu.
Geben Sie kleine Portionen auf den Teller und nur dann mehr, wenn die Kinder noch Hunger haben. Bestehen Sie nicht darauf, dass der Teller leer gegessen werden muss. Kinder müssen selbst entscheiden können, wann sie satt sind.
Kinder haben andere Geschmacksempfindungen als Erwachsene. Versuchen Sie, die Kleinen selbst entscheiden zu lassen, was sie essen. Wer keinen Brokkoli mag, isst vielleicht gerne Paprika.
Kinder sollten Freude am Spielen und sich-im-Freien-bewegen haben. Begrenzen Sie Fernseh- und Computerzeit auf 30 bis 60 Minuten pro Tag – in der Schule und bei den Hausaufgaben sitzen die Kinder noch genug.
Helfen Sie dabei, Aktivitäten zu finden, die Spass machen. Dicke Kinder bewegen sich meist nicht (mehr) gerne: Beginnen Sie daher langsam mit den sportlichen Aktivitäten. Am Wochenende gemeinsam Rad fahren, schwimmen, wandern oder rodeln: Das tut auch den Eltern gut.
Adipositas-Stiftung Schweiz: kostenlose Info und Beratung, Adressenvermittlung, Gratisbroschüre mit Selbsttest für die ganze Familie.
Webseite: www.saps.ch
Club minu: neunmonatiges Verhaltenstraining in Ernährung, Bewegung und Freizeit für 11- bis 15-Jährige und deren Eltern, plus Sommerlager.
Info: Migros-Kulturprozent, Life & Work
Webseite: www.minuweb.ch
AOK-Programm «Powerkids» für Kinder zwischen 8 und 12 Jahren. Beratung unterTel. D 0180 265 11 88
Webseite: www.powerkids.de
Kinder «FITOC». Angebote in mehreren deutschen Städten. Informationen auf der Webseite: www.fitoc.de
Silke Lautenschläger, «Dicke Kinder – Auf die Pfunde, fertig, los!», Ratgeber mit vielen Informationen, Rezepten und Regeln für den Alltag.
Fischer Verlag, 2004
ISBN 3596165121
CHF 14.60/EUR 7.90.
«Abenteuer Familientisch», Gratisratgeber des Schweizerischen Milchverbandes mit Tipps für gesundes Essverhalten.
Zu bestellen bei: www.swissmilk.ch