Zivilcourage wird oft als beherztes Eingreifen in Gewaltsituationen verstanden. Doch auch wenn im Alltag zwischenmenschliche Spielregeln grob verletzt werden, ist unerschrockenes Reagieren erforderlich. Dazu braucht es kaum Heldenmut, sondern viel mehr Besonnenheit.
Autor: Adrian Zeller
Beim Begriff Zivilcourage fallen einem vor allem jene Persönlichkeiten ein, die in totalitär regierten Ländern Widerstand geleistet haben. Beispielsweise die in diesem Jahr verstorbene Jelena Bonner: In der ehemaligen Sowjetunion hat sie sich gemeinsam mit ihrem Mann Andrei Sacharow für die Einhaltung der Menschenrechte engagiert. Für diesen Einsatz ist das Ehepaar grosse Risiken eingegangen.
Auch Aung San Suu Kyi kommt einem in den Sinn. In Myanmar, dem ehemaligen Burma, wurde die Friedensnobelpreisträgerin wegen ihres Engagements für die Demokratisierung jahrelang unter Hausarrest gehalten.
Verschiedene weitere Persönlichkeiten haben für ihr unerschrockenes Eintreten gegen Ungerechtigkeiten weltweites Ansehen erworben, beispielweise Nelson Mandela, Martin Luther King oder Mahatma Gandhi. Durch ihre Präsenz in den Medien und in den Geschichtsbüchern entsteht der Eindruck, Zivilcourage sei ein heldenhafter Charakterzug, über den nur einige wenige herausragende Menschen verfügen. Diese Annahme wird durch die Forschung widerlegt: Zivilcourage ist nicht eine vom Schicksal sehr zurückhaltend verteilte Gabe, jedermann kann sie trainieren.
Situationen, die mutiges, engagiertes Handeln erfordern, ergeben sich nicht nur dort, wo politisch grobe Missstände herrschen, sie können auch im unspektakulären Alltag vorkommen. Allein in einem Dorf oder in einem Verein eine Meinung zu vertreten, die vom üblichen Tenor abweicht, erfordert einiges an Mut. Exemplarisch hierfür ist der Fall der Schulpflegerin Ruth Ramstein. In der kleinen Schweizer Gemeinde Möriken kämpfte sie jahrelang dafür, dass ein allseits beliebter Lehrer wegen sexueller Übergriffe an Schülerinnen zur Verantwortung gezogen werden sollte.
Dafür musste sie gegen grosse Widerstände angehen und sich persönliche Anfeindungen und Rücktrittsforderungen gefallen lassen. Ihr Engagement sorgte schliesslich für Gerechtigkeit: Der Pädagoge wurde wegen sexueller Nötigungen und sexuellen Handlungen mit Kindern zu 3¼ Jahren Zuchthaus und zu einem befristeten Berufsverbot verurteilt.
Tatorte für unfaires Verhalten, Übergriffe und Schikanen sind oft der Arbeitsplatz, die Nachbarschaft und der öffentliche Raum, wie Strassenbahn oder Bus. Der frühere deutsche Bundespräsident und ehemalige Vorsitzende des Bundesverfassungsgerichtes, Roman Herzog, betont: «Das meiste Unrecht beginnt im Kleinen – und da lässt es sich mit Mut und Zivilcourage noch bekämpfen.»
Fall 1: Es ist kurz nach 23 Uhr; das pensionierte Ehepaar Kellenberger fährt nach einem Theaterbesuch mit der S-Bahn nach Hause. Einige Sitzabteile weiter vorne zanken sich eine Frau und ein Mann lautstark, beide scheinen nicht mehr nüchtern zu sein. Er beschuldigt sie, vorhin im Lokal mit männlichen Gästen geflirtet zu haben. Sie wirft ihm vor, Hirngespinste zu haben. Der Ton zwischen den beiden wird immer gereizter, bis er sie schliesslich ohrfeigt.
Oskar Kellenberger fordert den Mitreisenden energisch auf, die Frau in Ruhe zu lassen. Aggressiv gibt der Angesprochene zurück: «Halt dich da raus, sonst kriegst du auch ein paar an die Ohren.» Oskar Kellenberger greift diskret zum Handy und verständigt die Bahnpolizei.
Fall 2: Bettina Wagner arbeitet in einem Grossraumbüro. Der Bereichsleiter hat gekündigt. Eine Kollegin hat sich um dessen Nachfolge beworben. Dies gefällt zwei anderen Mitarbeiterinnen gar nicht, eine von ihnen hätte selbst gerne diesen Job.
Bettina Wagner bekommt auf dem Weg zum Pausenraum zufällig mit, wie die beiden tuschelnd vereinbaren, den Karrieresprung zu hintertreiben. Dazu wollen sie ab und zu Arbeitsunterlagen vom Pult der Aufstiegswilligen verschwinden lassen, um sie bei den Vorgesetzten als chaotisch und unzuverlässig erscheinen zu lassen.
Bettina Wagner ist in einem Gewissenskonflikt: Soll sie sich aus der Intrige heraushalten, weil sie sie ja nicht selbst betrifft, oder soll sie die beiden zurechtweisen? Nach einer Nacht, in der sie kaum geschlafen und viel gegrübelt hat, entschliesst sie sich, den Stier bei den Hörnern zu packen und den beiden Intrigantinnen mitzuteilen, dass sie ihre Pläne für perfides Mobbing hält.
Fall 3: Helene Schneider hört alle paar Wochen ein lautes Geschrei aus der Wohnung über ihr. Im Treppenhaus ist ihr aufgefallen, dass Leandra, die Tochter ihrer Nachbarn, verstört wirkt und blaue Flecken hat. Als sie die Neunjährige darauf anspricht, erklärt diese, sie sei beim Spielen ausgeglitten und hingefallen.
Als das Mädchen zwei Wochen später nach einem weiteren lautstarken Streit wieder malträtiert aussieht, lässt dies Helene Schneider keine Ruhe. Sie ruft eine Kinder- und Jugendschutz-Organisation an und erkundigt sich, wie sie dem Kind am besten helfen kann.
Experten raten, sich in einer ruhigen Minute zu überlegen, wie man sich verhalten würde, wenn man unverhofft mit konfliktträchtigen Umständen konfrontiert wird; im Ernstfall bleibt dazu nicht mehr viel Zeit. Menschen, die Handlungsweisen für kritische Situationen verinnerlicht haben, können wirkungsvoller eingreifen.
Das zeigen auch professionelle Helfer wie Polizeiangehörige oder Sicherheitspersonal, die wirkungsvolles Handeln in brenzligen Situationen immer wieder trainieren. Dadurch schaffen sie es, sich durch Drohungen und Beleidigungen nicht provozieren zu lassen, sachlich zu bleiben und auf aufgeheizte Stimmungen deeskalierend einzuwirken.
Immer wieder tauchen in den Medien Berichte über Gewalttätigkeiten im öffentlichen Raum auf, bei denen Passanten nicht eingegriffen haben. Sie sind scheinbar gleichgültig weitergelaufen.
Wissenschaftliche Analysen solcher Situationen haben gezeigt, dass für diese Passivität weniger Gleichgültigkeit und mangelndes Mitgefühl die Gründe sind, sondern vielmehr Angst, Ohnmacht und Unwissenheit. Jeder der zufälligen Zeugen eines Übergriffs hofft, eine andere Person in der Umgebung würde eingreifen. Weil jeder den anderen für mutiger und kompetenter hält, kann es passieren, dass am Ende niemand interveniert.
Experten empfehlen Menschen, die ein Delikt oder einen Übergriff feststellen, andere Umstehende direkt nach ihrer Meinung dazu zu befragen, auch wenn dies für sie wildfremde Personen sind. Dadurch wird die Wand des Schweigens durchbrochen. Gemeinsam kann dann das weitere zweckmässige Vorgehen abgesprochen werden.
Längst nicht immer ist die direkte Konfrontation die optimale Strategie, um eine heikle Situation aufzulösen – sie kann unter Umständen eine angespannte Lage noch gefährlicher machen. Vor allem Besonnenheit ist nötig: Oft ist es besser professionelle Hilfe anzufordern, statt sich selbst Gefahren auszusetzen. Sicherheitsfachleute empfehlen, in Situationen, die Zivilcourage erfordern, nach folgenden Regeln zu handeln:
Die betroffene Person sollte Unterstützung deutlich spüren, indem man ihr konkret Hilfe anbietet. Auch wenn die direkte Gefahr vorüber ist, braucht sie psychischen Beistand, weil sie das soeben Erlebte aufgewühlt und verwirrt hat. Eventuell müssen Angehörige benachrichtigt werden.
Verantwortliche können am schnellsten durch konkrete Angaben ermittelt werden. Bei Unglücksfällen oder Gewaltdelikten sollte man sich möglichst viele Details merken und sie anschliessend der Polizei mitteilen. Wer unter Zeitdruck ist und den Ort bald verlassen muss, hinterlässt seine Adressangaben.
Die Wissenschaft erbrachte den Nachweis: Personen, die sich kompetent und stark fühlen, sind rascher bereit, sich in schwierigen Situationen für andere einzusetzen und soziale Verantwortung zu übernehmen. Zudem: Wer selbstsicher auftritt und sich im Notfall wirkungsvoll wehren kann, wird weniger leicht Opfer von Übergriffen.
In verschiedenen Regionen wurden Aktionsprogramme ins Leben gerufen, die die Teilnehmer für Übergriffe sensibilisieren und in zweckmässigem Handeln schulen. Nähere Angaben über entsprechende Kurse sowie Kontaktadressen erhalten Interessenten bei den Städte- und Gemeindeverwaltungen. Verschiedene Sport- und Fitnessstudios bieten Trainings in Selbstbehauptung und Selbstverteidigung an, um für Notfälle gewappnet zu sein. Diese Techniken können auch von Nicht-Sportlern erfolgreich erlernt werden. Ein Teil der Kurse richtet sich spezifisch an Mädchen und Frauen. Auf sie ausgerichtete Techniken heissen etwa Wen Do oder Pallas. Weitere wirkungsvolle Methoden sind Wing Tsun sowie Krav Maga.
In brenzligen Situationen können auch Schrillalarmgeräte hilfreich sein. Mit ihrem sehr lauten Ton ziehen sie die Aufmerksamkeit von Passanten und Anwohnern auf sich und treiben Gewalttäter in die Flucht. Handliche und preiswerte Schrillalarmgeräte sind im Fachhandel erhältlich.