Als Zierpflanze beliebt, als Arzneipflanze unterschätzt ist die Gemeine Nachtkerze (Oenothera biennis). Um das zu ändern, wurde sie vom Naturheilverein NHV Theophrastus zur Heilpflanze des Jahres 2026 gekürt.
Bereits die Indigenen Nordamerikas schrieben der Nachtkerze verschiedene heilkräftige Wirkungen zu. Die Blätter verarbeiteten sie zu einem Brei, den sie für Umschläge verwendeten, um Wunden und Entzündungen der Haut zu heilen. Aus den Wurzeln der Pflanze brauten sie ein Hustenmittel. Im 17. Jahrhundert wurde die Nachtkerze als eine der ersten Pflanzen nach Europa exportiert. Sie galt unter anderem als Linderungsmittel bei Keuchhusten und Asthma und wurde in England dank ihrer vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten «Allheilmittel des Königs» genannt.
Die Nachtkerze gehört zur Familie der Nachtkerzengewächse (Onagraceae), die mehr als 20 verschiedene Gattungen umfasst. Weidenröschen, Fuchsia und Hexenkraut zählen auch zu dieser Pflanzenfamilie und sind vielleicht eher ein Begriff als die Nachtkerze. Die bis zu einem Meter hohe Nachtkerze wurde früher ihrer fleischigen essbaren Wurzel wegen auch als Gemüsepflanze, als sogenannte «gelbe Rapunzel», in den Gärten angepflanzt. Heute wächst sie an Bahndämmen, auf Brachland und sandigen Feldern; sie liebt trockene Böden. In unseren Breitengraden blüht sie von Juni bis September.

Die Wurzeln können ähnlich wie Schwarzwurzeln in der Küche gebraucht werden, aber auch Blätter, Blüten und Samen sind essbar.
Kurz vor der Dämmerung verwandelt sich die tagsüber eher unscheinbare Nachtkerze in eine schöne Pflanze mit hell leuchtenden sonnengelben Blüten, die einen Durchmesser von drei bis fünf Zentimetern aufweisen. Etwa zwölf Stunden später verwelken die Blumen. Bevor die nächste Dämmerung anbricht, wiederholt sich das einzigartige Schauspiel. Die geöffneten Blüten verströmen einen angenehmen milden Duft, der die Nachtschmetterlinge anlockt. Aus den von den Nachtschmetterlingen befruchteten Blüten entwickeln sich längliche Fruchtkapseln mit etwa 200 Samen. Daraus wird das hochwertige Öl gewonnen.
Die einmalige Zusammensetzung des Nachtkerzenöls ist erst seit wenigen Jahren bekannt. Das Öl der Nachtkerze (Oenotherae oleum) enthält als wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoff fettes Öl (60 bis 80 Prozent Linolsäure und 8 bis 14 Prozent γ-Linolensäure). Es soll entzündungshemmend und immunmodulatorisch wirken. Die für den Stoffwechsel von Mensch und Tier unentbehrliche Gamma-Linolensäure ist eine mehrfach ungesättigte Fettsäure welche vom Körper zwar selbst hergestellt werden, aber welche in vielen Situationen trotzdem in zu kleinen Mengen produziert wird und daher Nahrung zugefügt werden muss.
Eine der Hauptaufgaben der Gamma-Linolensäure besteht darin, sogenannte Prostaglandine zu bilden. Diese physiologisch stark wirksamen Substanzen, die sich alle von Fettsäuren ableiten, beeinflussen unter anderem das Herz, den Kreislauf, den Cholesterinspiegel und den Blutdruck, verstärken die Wirksamkeit des Insulins, beeinflussen Entzündungen und wirken positiv auf die Geschlechtsorgane und das körpereigene Abwehrsystem. Es verwundert daher nicht, dass eine Störung in der Prostaglandin-Bildung, wie sie durch einen Mangel an Gamma-Linolensäure hervorgerufen wird, erhebliche negative Folgen für den Organismus mit sich bringt. Sehr kleine Mengen der Gamma-Linolensäure finden sich zwar in zahlreichen Lebensmitteln, wirklich nennenswerte Mengen dieser Fettsäure hat man bisher jedoch nur in der Muttermilch und im Samen der Nachtkerze festgestellt.

Die Nachtkerze, die in der Nacht ihre grossen, leuchtendgelben Blüten öffnet und einen angenehmen Duft verbreitet, enthält Gamma-Linolensäure.
Heute wird das Nachtkerzenöl bei verschiedenen Krankheiten und Beschwerden eingesetzt: es soll den Cholesterin-Spiegel im Blut senken und den Blutdruck normalisieren; bei Kindern und Erwachsenen führt es zu einer beträchtlichen Besserung von Ekzemen und Allergien, in etlichen Fällen sogar zu vollständiger Heilung; ausserdem ist es hilfreich bei Arthritis. Das Nachtkerzenöl kann auch bei Menstruations- und Wechseljahrbeschwerden genutzt werden. Einen ganz besonderen Platz nimmt das Nachtkerzenöl schliesslich in der Behandlung des prämenstruellen Syndroms ein; es lindert die körperlichen und seelischen Beschwerden. Das Nachtkerzenöl ist als Öl oder in Form von Kapseln im Handel erhältlich.
Obwohl beide Öle von angesehenen Phytotherapeuten und auch von der Expertenkommission des deutschen Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bislang positiv bewertet wurden, konnte eine Übersichtsstudie der Cochrane Collaboration (2013) keinen besseren Effekt als mit Placebo-Ölen (z.B. Paraffin-, Sonnenblumen-, Kokosnuss-, Palm- oder Olivenöl) feststellen. Die Carstens-Stiftung, die sich für die Förderung der Komplementärmedizin einsetzt, bemängelt an der Untersuchung jedoch: Nicht bzw. nur in zwei von 27 Studien berücksichtigt wurde der Aspekt der Verbesserung der Lebensqualität. Dies sei jedoch ein wichtiger Parameter zur Beurteilung möglicher Vorteile der pflanzlichen Alternativen: Darin stecke nämlich die Problematik von Nebenwirkungen schulmedizinischer Medikamente. So umfasse die Analyse nur einen Teilaspekt. Die Wirkung einer Behandlung mit Borretsch- oder Nachtkerzenöl bei Neurodermitis tritt erst ab einer bestimmten Dosierung und nach frühestens vier bis zwölf Wochen ein.
Nachtkerzenöl kann laut HMPC-Monografie innerlich und äusserlich zur Linderung von Juckreiz sowohl bei kurz- und langfristigen Hauterkrankungen eingesetzt werden. Das Öl findet sich in vielen Cremes für Patienten mit atopischer Dermatitis (Neurodermitis). Die Anwendung fällt unter den «traditional use»; also aufgrund des Erfahrungsschatzes. Gute Evidenz aus klinischen Studien liegt nicht vor.