Warum eine spezielle Ernährungsweise aus den kühleren Gegenden Europas mittlerweile von Experten genauso geschätzt wird wie die «Mittelmeerdiät».
Text: Petra Horat
Zwölf Spitzenköche aus Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und Island treffen sich in Kopenhagen. Sie wollen die nordische Küche revolutionieren. Einen Tag lang diskutieren sie, dann steht ihr Manifest der «New Nordic Kitchen»: Frisch, gesund, einfach und kreativ soll die künftige Ernährungsweise sein. Die Mahlzeiten sollen aus regionalen Lebensmitteln bestehen und den Wechsel der Jahreszeiten widerspiegeln. Sie sollen das Tierwohl fördern, der Natur Sorge tragen und die Selbstversorgung Skandinaviens stärken. Das war im November 2004, und keiner der Beteiligten konnte damals wissen, dass die neue Ernährungskultur Millionen von Menschen begeistern würde, Einheimische ebenso wie Foodtouristen aus der ganzen Welt. Und dass Heerscharen von Köchen, Landwirten, privaten Kleinproduzenten, Hobbygärtnern, Kräutersammlern, Forschern, Lehrern, Politikern und Beamten aus ganz Skandinavien mithelfen würden, diese kulinarische Vision umzusetzen.

Zu den Geburtshelfern der Neuen Nordischen Küche zählt auch der Ernährungswissenschaftler Prof. Arne Artrup: 2009 rief der Direktor des Departements für Ernährung an der Universität Kopenhagen ein interdisziplinäres Forschungsprojekt ins Leben. Es prüfte die neue Ernährungsweise vier Jahre lang auf ihre Alltagstauglichkeit, Bekömmlichkeit, Qualität und Nachhaltigkeit. Fazit? «Die Neue Nordische Küche ist so gesund wie die mediterrane Küche», zeigte sich Arne Artrup überzeugt.
Tatsächlich sprechen mehrere Gründe dafür, dass sie eine ebenbürtige Schwester der mediterranen Ernährungsweise ist. Der wichtigste Grund: Beide Ernährungsformen stellen pflanzliche Lebensmittel in den Mittelpunkt, also Gemüse, Salat, Vollkorngetreide, Früchte, Hülsenfrüchte, Nüsse, Samen, Kräuter, Pilze, Algen und Pflanzenöle. In beiden Küchen werden Fleisch und Milchprodukte vorwiegend fettarm und sehr massvoll konsumiert. Nicht zuletzt bringen beide Ernährungsformen Wildgerichte und kulinarische Schätze aus dem Meer und einheimischen Süssgewässern auf den Tisch.
Eine solche Ernährungsstruktur hat gesundheitliche Vorteile, etwa die Stärkung des Immunsystems, die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit, die Reduktion des Risikos für Schlaganfall und Herzinfarkt, die Senkung des Blutzuckerspiegels, die Prävention von Arteriosklerose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes mellitus Typ 2 sowie eine erhöhte Lebenserwartung. Noch kann die Neue Nordische Küche besagte Wirkungen nicht vollumfänglich belegen. Dafür ist sie zu jung. Doch ihre Gemeinsamkeiten mit der hervorragend erforschten Mittelmeerdiät oder der orientalischen Küche erlauben eine vorsichtig-optimistische Vorwegnahme künftiger Erkenntnisse. Darum empfehlen renommierte Ernährungsexperten wie beispielsweise die Hamburger Ernährungs-Docs (regelmässig in TV-Sendungen zu sehen auf NDR) ihren Patientinnen und Patienten, nordisch zu essen.

Besonders wichtig ist der Neuen Nordischen Küche die Nachhaltigkeit, also der achtsame und schonende Umgang mit der Natur. Da sie hauptsächlich auf regionale Lebensmittel und Zutaten setzt, verkürzen sich die Transportwege; kleine Lebensmittelanbieter werden gestärkt, die Selbstversorgung der Bevölkerung erhöht. Auch die Suche nach einheimischen Lebensmitteln und Wildkräutern in Garten, Feld und Wald spielt in der nordischen Küche eine wichtige Rolle und wirkt belebend auf die kulinarische Kreativität. Die gleiche Achtsamkeit äussert sich auch in der Empfehlung, möglichst oft mit biologisch produzierten Lebensmitteln zu kochen sowie Fisch aus Wildfang und Fleisch aus nachhaltiger Produktion zu bevorzugen – nicht zuletzt, weil der Fischfang mithilfe von Supertrawlern die Meere plündert, während der Konsum von Fleisch aus Massentierhaltung die Abholzung der Regenwälder und die Bildung riesiger Mengen an klimaschädigenden Treibhausgasen befeuert.
Einen eigenen Weg geht die Neue Nordische Küche auch bei den Speiseölen. Nördlich der Alpen wachsen nun mal keine Oliven. Deshalb setzt man auf Öle von Pflanzen aus nördlichen Regionen: auf Rapsöl, Nussöl und Algenöl. Rapsöl kommt am häufigsten zum Einsatz. Die bitter schmeckenden und gesundheitlich bedenklichen Inhaltsstoffe wurden aus der Rapspflanze herausgezüchtet. Das «Gold des Nordens» enthält relevante Mengen von Vitamin K, das den Knochenstoffwech?sel reguliert. Ausserdem zwei stark wirksame Antioxidantien, Betacarotin und Vitamin E, letzteres höher konzentriert als im Olivenöl. Auch der Gehalt an Omega-3-Fettsäuren ist beim Rapsöl höher als derjenige des Olivenöls. Zur Erinnerung: Omega-3-Fettsäuren wirken entzündungshemmend und sind an einer Vielzahl körperlicher Prozesse beteiligt, etwa an der Synthese von Eiweiss, am Zellstoffwechsel, an der Bildung von Abwehrzellen, an der Regulierung der Blutfettwerte und der Prävention chronischer Entzündungen.

Die Neue Nordische Küche ist frisch, vielfältig, grün und bodenständig. Ihre diätetischen Empfehlungen sind etwas strenger als die behördlich-offiziellen Ernährungsrichtlinien der skandinavischen Länder.
Diese wurden letztmals 2023 im Rahmen eines grossen Updates aktualisiert. 400 Forscher hatten vorgängig im Auftrag des «Nordic Council of Ministers» Tausende von wissenschaftlichen Ernährungsstudien analysiert. Schmackhaft ist der Küchentrend auch. Seit der Implementierung der «New Nordic Kitchen» werden skandinavische Küchenchefs zusehends mit Michelin-Sternen dekoriert und räumen beim renommierten «Bocuse d’Or» reihenweise Siegermedaillen ab. Rezepte aus der Sterneküche wie z.B. «Steinkrabben mit Meersenf und Herzmuschelgelee» oder «Boullion aus gedämpfter Birke mit Pfifferlingen und Ha?selnüssen» lassen die Herzen vieler Gourmets höher schlagen. Dabei schmeckt auch die normale nordische Alltagsküche fein. Etwa in Form einer vegetarischen Kohlroulade, einer frischen Forelle auf Rahmspinat oder eines Rote-Bete-Feldsalates mit Roggenbeeren und Skyr-Sauce. Keine Frage: Die Neue Nordische Küche lädt zum gesunden und lustvollen Experimentieren ein!